Wo Worte aufhören, fängt Gewalt an. Welch ein Erlebnis! Bis jetzt hatte ich stets den Eindruck, dass die Straßenkinder ein schlechtes Leben führen, es trotzdem aber positive Dinge gab, die mich zum Teil überraschten, dass sie existieren und mich manchmal vergessen ließen, in welch schlechtem Zustand sie sich wirklich befinden. Doch heute wurde ich wachgerüttelt! Eine andere Organisation, die sich auch mit Straßenkindern beschäftig, organisierte ein Fußballturnier zwischen mehreren Teams von Straßenkindern und anderen Kindern. Dies war daran zu erkennen, dass die Nicht-Straßenkinder einfach hochpolierte Nike-Fußballschuhe und Trikots ohne Löcher und strahlender Farbe trugen. Welch eine schöne Idee, verschieden Milieus über Fußball für einen Nachmittag zusammenzubringen. Die Teams wurden organisiert und spielten in zwei Halbzeiten á 15 Minuten gegeneinander. Für Zuschauer war auch gesorgt, indem der Wettstreit auf einem Fußballplatz in der Nähe vom Fluss/Bach stattfand, an dem sehr viele Staßenkindergruppen wohnen. So war außerdem sichergestellt, dass diese auch teilnehmen werden und es nicht vergessen konnten. Mir offenbarte sich ein schon sehr bizarres Bild von Unmengen an Kindern aus verschiedensten Milieus und den dazugehörigen Mitarbeitern verschiedenster Organisationen. Diese Kollegen waren auch sehr einfach an ihrer hellen Hautfarbe zu erkennen, die einfach überwog.
Die Fundacion „Estrellas en la calle“ wahrt den Grundsatz, dass die Kinder während der Aktivitäten keinen Kleber oder sonstige Drogen konsumieren dürfen. Dies wird auch äußerst konsequent durchgesetzt, indem die Kleberflaschen (vuelos) vor jeder Aktion mit Namen versehen in einer Tüte eingesammelt werden und später wieder ausgeteilt werden, wenn uns die chicos daran erinnern. Dieses Vorhaben bedeutet für uns Mitarbeiter stets viel Anstrengung, verortet sich aber im Grundkonzept jeglicher Arbeit mit den Jungs und Mädels. Hierbei geht es nicht nur um Anti-Drogen-Arbeit sondern auch um Respekt, Steigerung der Aufnahme- sowie generell der Leistungsfähigkeit. Dies kann nicht bei allen Organisationen beobachtet werden. So kam es, dass extrem viele Jugendliche konsumierten, auch wenn ihre educadores neben ihnen saßen oder mit ihnen sprachen. Dies erschwerte es natürlich für uns ungemein, den Konsum unserer Gruppe für die Dauer des Turniers zu unterbinden. Die chicos suchten immer wieder alte Flaschen aus dem Flussbett, um an ihnen schnüffeln zu können.
Obwohl sie eigentlich sehr gut Fußball spielen können, siegte die andere Mannschaft. Die war in ihrer Spielweise wesentlich offensiver bis hin zu aggressiver. Da ich während des Spiels auf die Habseligkeiten unsere Jungs aufpasste, nahm außerdem die Gelegenheit war, zum einen in Kontakt mit den Jungs zu kommen und zum anderen das allgemeine Geschehen zu beobachten. Dabei bot sich mir der schon oben beschriebene Eindruck zum Konsum, aber auch ein Bild der permanenten Gewalt. Ständig konnte ich irgendwo neue Rangeleien bis hin zu ernsthaften Schlägereien beobachten –letzteres weitaus öfter. Woran mach ich dies fest? An dem Grad der Gewalt. Oft wurden Kleberflaschen untereinander entwendet, was zu Verfolgungsjagden, Androhungen von Steinwürfen, Drohgebärden im Allgemeinen und kurzen Handgreiflichkeiten führte. Diese Bild änderte sich aber allzu oft in ernsthafte Faustkämpfe und Steinwürfe. Da der Kleber die Motorik extrem stark einschränkt, droschen die Jugendlichen zwar anscheinend ohne Rücksichtnahme oder Zurückhaltung auf einander ein, trafen dafür aber nur sehr selten. Zum Glück war unsere Gruppe bis dato damit nicht konfrontiert worden.
Das Turnier war vorbei, ein großer Topf mit refrescos (allgemein ein Erfrischungsgetränk) herangekarrt, aus dem sich jeder ein Becher abschöpfen durfte. Dies ging wie gewohnt nicht ohne Drängeleien und Rangeleien von statten. Unsere Gruppe stand mitten in diesem Tumult, trank und machte sich auf den Weg. Wir standen auf, um mit ihnen den Platz zu verlassen. Plötzlich sahen wir einen unserer Jungs in einem Faustkampf verwickelt. Obwohl er beständig dem anderen nach hinten entwich, ließ er Salven von Faustschlägen ab, von denen keine traf. Einer unserer Mitarbeiter Gabo hielt irgendwann seine Hand dazwischen und forderte eine Ende -basta! Wir setzten unseren Weg nach diesem Zwischenfall fort. Doch Pustekuchen. Der andere Junge kann erneut angestürmt und stürzte sich auf ihn, doch diesmal folgten ihm weitere Jugendliche, die sich an die Restlichen der America-Gruppe zu schaffen machten.
Den Grund dieser Schlägerei konnte ich bis heute nicht herausfinden. Im Team haben wir vermutet, dass es auch keinen wirklichen Grund, außer dem Markieren von Respekt und Rangzugehörigkeit, gab. Vielleicht ist dies auch ein Ausdruck für fehlende Sprachkompetenzen. Nichts desto trotz war jetzt unser aller Eingreifen gefordert, um schlimmeres zu verhindern. Dazu muss gesagt sein, dass wir nur so eingreifen, indem wir unseren Arm zwischen die Streitparteien halten und ein Ende fordern. Denn es darf nicht vergessen werden, dass bei solchen Prügeleien andere Werte- und Normensysteme greifen, die vielleicht auch auf Gewaltausübungen zugeschnitten sind. Wer dabei Unterstützung durch vielleicht einen gringo (weiße Menschen) bekommt, verliert sofort seinen Kampf um mehr Anerkennung bzw. Respekt. Zudem stellt sich keine Achtsamkeit und geringere Skrupellosigkeit ein, nur weil wir Mitarbeiter dazwischen stehen. Trotzdem müssen wir versuchen schlimmeres zu verhindern.
Als größtes Problem gestalteten sich die immer wiederkehrenden Angriffe, von oft auch ganz anderen Personen, die am Anfang noch gar nicht dabei waren. Unser Abgang vom Platz zog sich in die Länge, da wir beständig aufgehalten wurden. Auf dem Bürgersteig angekommen konnten viele Jungs bereits Abstand zu den Angreifern gewinnen. Diese nahmen nun Steine von der aufgebrochenen Straße. Unterlieg aber nicht dem Trugschluss, dass es sich hierbei um kleine Steinchen handelt, wie mensch es vielleicht aus Deutschland gewohnt ist. Nein! Mehr als Faustgroße Hinkelsteine wurden hier mir aller Wucht losgeschleudert. Ein Wunder, dass die bei der Entfernung überhaupt trafen. Ein anbrausender Stein sollte den Kopf des einen chico eigentlich knapp verfehlen, dieser drehte seinen Schädel jedoch genau unpassend nach hinten um. Der andere wurde leider zielgerichtet oberhalb der Schläfe getroffen. Ich könnte nach solch einer Erschütterung und den Schmerzen nicht weiterlaufen. Durch unser Zutun konnten wir zum Glück die große Mehrheit an Würfen unterbinden.
Reichlich Blut floss, viel Aufregung folgte, ich verstand die hiebbeliege Sprache der Straßenkinder nicht mehr. Nach einer kurzen Schreckminute brüllten sie nach ihren vuelos und konnten nicht einmal mehr abwarten, bis ihre Flasche aus der Tüte gezogen wurde. Ich wurde fasst überfallen, denn die Jungs rissen mir einfach jede Flasche aus der Hand, ohne irgendeinen Namen zu beachten. Nun schnüffelten sie pausenlos, sprangen hin und her, konnten kaum stillstehen und riefen wild durcheinander. Hat ein kostenloser Arzt der Franziskaner eigentlich am Freitagnachmittag noch offen? Dies galt es zunächst zu klären. Inzwischen kam Oscar, der Chef von coyera, sammelte die Jungs im Auto ein und fuhr zu den Franziskanern. Vorher versuchte er noch die beiden am offensichtlichsten betroffenen Jungs zu untersuchen, die konnten aber kaum still stehen, geschweige denn irgendetwas beschreiben. Da nicht alle ins Auto passen, begleiteten wir die Unversehrten, bis diese sich recht schnell entschieden von uns verabschiedeten. Die Geburtstagsfeier von der Chefin des Kindergartenprogramms Fenix wirkte danach sehr unpassend und bizarr.
Henry! Suena duro lo que escribes de la violencia! Espero que tú sigas bien y sin ser atacado/robado/etc.! Gracias por tus informes acá en el Blog!
AntwortenLöschenoh man, du beschreibst das einfach echt ziemlich genau...ich musste mich auch erst daran gewöhnen, dass Gewalt in den zwischenmenschlichen Beziehungen und generell im Alltag für viele Menschen in Bolivien eine ganz andere Rolle spielt als für mich. Und ich fand es immer wieder wirklich schwierig diesen Situationen so ohnmächtig gegenüber zu stehen. Bin aber gleichzeitig dankbar für diese Erfahrung vor Ort, was mich vieles hier doch wieder sehr zu schätzen liess.
AntwortenLöschen