Sonntag, 31. Oktober 2010

Raub

Im Nachhinein hört sich selbst für mich die Geschichte wie aus dem Lehrbuch an. Deswegen bitte ich dich um den Versuch, dich empathisch in die Situation hineinzuversetzen, um zu verstehen, wie es dazu überhaupt kommen konnte.

Nach der Arbeit fuhr ich wie gewohnt mit dem Trufi 010 vom Casa Coyera nach Hause, vollkommen versunken in meinen Gedanken ließ ich den Tumult der Großstadt an mir vorbeiziehen, ohne ihn wirklich zu bemerken. Meistens nutz ich die Zeit im Bus, um mich auszuruhen, die Arbeit zu reflektieren oder einfach irgendwelchen anderen Gedanken nachzujagen. Da der Trufi 010 direkt durch die Cancha (der große und äußerst chaotische Markt, auf dem alles Wünschenswerte angeboten wird) fährt, saßen wir dort im Feierabendverkehr bestimmt 15 Minuten fest. Nichts ungewöhnliches. Die pralle Sonne trieb mir Schweiß auf die Stirn. Danach führen wir weiter über die San Martin Richtung Stadion, wo ich dann endlich aussteigen kann. Doch bis dahin soll in diesem herrlich chaotischen Verkehr noch eine Menge Zeit verstreichen. Da zu dieser Zeit so gut wie alle nach Hause stromern, stiegen nun nach und nach immer mehr Leute ein und folgten der Stille der andere Passagiere. Ich überlegte, angeregt durch die lecker riechenden Backstände der Cancha, ob ich nicht gleich bei meiner Bäckerei vorbeigehe und endlich mal deren Süßigkeiten ausprobiere. Als wir dann am Plaza Colon voreigefuhren sind, sich der Verkehr aus seinem Stocken herauslöste, stieg zu guter letzt ein Mann ein, der hinter mir Platz nahm. Sofort tippte er mir auf die Schulter, um mir mitzuteilen, dass ich Dulce de Leche (karamellisierte Milch) im Haar habe. Die verstand ich zunächst erst falsch und dachte, dass er mich wie so viele andere bereits zuvor auf meine Dreads ansprechen möchte. Da er aus meiner Reaktion herausnehmen konnte, dass ich ihn nicht richtig verstanden habe, zeigte er auf die Wand neben mir, wo auch ein bisschen von dieser eigentlich leckeren Paste klebte. Ich fasste mir sofort ins Haar, wo mich ein riesiger Haufen -jetzt auch an meinen Fingern- begrüßte. Welches Kind hat da den sein Essen an die Wand geschmiert, dachte ich in meiner Verärgerung sofort. Aber gleich war ich zu Hause, um mich von meinem Glück zu befreien. Doch mit klebrigen kann ich nicht einmal mein Portemonnaie aus meiner Hosentasche holen. Somit fragte ich alle Anwesenden, ob sie Taschentücher bzw. Klopapier dabei habe. Der Mann, der mich auf diesen wunderbaren Klecks angesprochen hat, zog so allerlei aus seiner Hosentaschen: eine Tüte, Müll, Schrauben und Klopapier. Ich machte mich als daran, meine Finger zu säubern. Da die Straßen Cochabambas eigentlich immer dieses schöne deutsche Verkehrsschild „Achtung Straßenschäden und Bodenwellen“ verdienen, fuhren wir auch jetzt in ein Schlagloch, wodurch just der selber Mann seine Schrauben aus der Hand verlor und überall im Trufi verteilte, auch auf meiner Sitzbank. Ein Finger musste noch gesäubert werden, danach wollte ich ihm beim Einsammeln helfen. Doch ungeduldig wie er war, forderte er mich beständig auf, ihm endlich seine Schrauben zu geben. Die Erklärung meines Vorhabens sollte ihn aber auch nicht beruhigen, eher fing er an mich von hinten ein wenig zu wegzudrücken, damit ich aufstand. Der Mann neben mir wirkte von der Situation auch reichlich genervt und stand auch nur wiederwillig auf. Er beugte sich als über die Sitzbank über und sammelte alle Schrauben ein. Doch auf dem Fußboden selbst lag noch mein Beutel, denn ich lieber schnell wieder an mich reißen wollte, bevor noch etwas draus geklaut wird. Ich setzte mich mit meiner typischen Handbewegung, Hände auf die Hosentaschen legen, um zu kontrollieren, ob noch alles da ist, hin. Sofort merkte ich, dass mein Portemonnaie fehlt. Um sicher zu gehen, dass ich gerade in ein Ablenkungsmanöver geraten bin, vergewisserte ich mich, dass es auf meinem alten Platz nicht mehr liegt. Doch was soll ich jetzt machen? Die vier Herren, die sich alle um mich herum gesetzt hatten und für mich nun zusammen gehörten, direkt darauf ansprechen? Um die Aufmerksamkeit der anderen Passagiere sowie Fahrer für mich zu gewinnen, den Trufi anhalten und es ansprechen? Plötzlich sah ich, dass mein Portemonnaie perfekt neben der Sitzbank auf dem Fußboden lag, als ob jemand aufgeräumt hat. Zum Glück stellte ich fest, dass nur der 20Bs (ca. 2€) Schein fehlt, alles andere, was auch nicht wirklich ein Wert für einen Dieb hat, war noch da. Während all dessen stieg einer nach dem anderen an unterschiedlichen Stellen aus, so wie sie auch nicht zeitgleich zugestiegen sind. Ich überlegte noch, ob ich sie auf meinen Geldverlust ansprechen sollte? Beim herausgehen gab mir der letzte noch ein bisschen mehr Klopapier zum säubern. Die anderen Passagiere kommentierten nun direkt, wie clever der Plan durchgeführt war und erkundigten sich nach meinem Verlust. Ich antwortete kurz und musste nun aussteigen. Zum Glück war auch noch mein Kleingeld da, um den Trufifahrer zu bezahlen. Vor lauter Verärgerung kaufte ich mir jetzt erstrecht etwas Leckeres beim Bäcker. Nebst dem unangenehmen Gefühl wirklich immer ein wenig misstrauisch durch die Welt zu laufen, ärgerte mich am meisten, dass ich mir jetzt meine Haare waschen muss, die bis zu der Geburtstagsfeier meines Freundes nicht trocken sein werden.

Donnerstag, 14. Oktober 2010

Cochabamba, die Stadt des Essens

Kulinarisch betrachtet schwimme ich in einem Paradies. An jeder Ecke verkauft eine Cholita ihre Leckereien. Mir wurde gesagt, dass es über den Tag hinweg fünfzig verschiedene traditionelle Gerichte gibt. Ja die Erfahrung musste ich schon recht früh machen, dass es diese leckeren Salteñas (Teigmantel gefüllt mit Fleischsoße, gibt es auch in scharf oder vegetarisch mit Ei) standardgemäß nur am Morgen gibt. Da ich aber am Vormittag immer im Init K’anchay arbeite, komme ich an diesen tollen Ständen in der Stadt nicht vorbei. Mich trieb schon die Angst, dass ich sie wohl so schnell nicht probieren dürfte. Mittlerweile habe ich schon mehrere gegessen und zudem rausgefunden, dass es auch versteckt Läden gibt, die die auch noch am Nachmittag verkaufen. Frisch gepressten Orangensaft gibt es zu jeder Tageszeit, dafür Biskuit mit Crememantel nur zum Frühstück. Am Nachmittag findet mensch dann vornehmlich Stände mit Nüssen und Samen, Popcorn (so wie in Europa oder auf bolivianisch –wer sich erinnert: es sind die von meiner Block-Party, hier bloß in allen Größen und Formen), Refrescos aus den verschiedensten Früchten, kleingeschnittene Ananas, Empanadas, Eis.

Natürlich wollen die Bolivianer zum Mittag auch richtig etwas essen. Hier fängt der Spaß erst an: Es gibt so viele verschiedene platos, dass ich sie bereits noch nicht einmal alle kenne. Wann immer ich mich mit Bolivianern über ihre Küche unterhalte, was erstaunlich oft und mit einer immer wiederkehrenden Begeisterung ihrerseits vorkommt, dann höre ich mir stets neue Gerichte an, die ich ausprobieren muss. All diese können nun zum Mittag an den verschiedensten Orten genossen werden. Grundsätzlich besteht das traditionelle Essen aus Fleisch mit Kartoffeln und Reis oder Nudeln, Gemüse wird z.T. auch dazugereicht. Die scharfe und sehr leckere Soße Llajua steht immer aufm Tisch. Diese Kombination findet mensch genauso in Suppen wieder. Das wirklich spannende und abwechslungsreiche befindet sich in der Zubereitung und dem Fleisch. Nach einer traditionellen Kochart wird Fleisch und Kartoffel im Erdboden über Nacht auf Kohlen gekocht: Pampaku z.B. Auch verschiedenste Soßen wirbeln die Dinge ein wenig auf: Sehr oft wird Hühnchen zum Kochen verwendet, in Kombination mit Kartoffeln und Reis bzw. Nudeln. Doch picante de pollo (übrigends sehr lecker) schmeckt ganz anders als plato pollo. Ersteres wir mit einer leckeren Chillie-Knoblauchsoße überzogen. Beim Zweiteren wird das Fleisch mehr oder weniger auf einem Grill frittiert.

Die Auswahl erscheint unendlich! Denn in Bolivien wird vom Tier alles verwertet. Wo die deutschen Lebensmittelkultur lieber nichts von wissen will, wird hier als ganz klassisches Essen propagiert. Sopa de lengua (Suppe der Zunge) heißt so, weil sie mit Kuhzunge zubereitet wird, das Fleisch schwimmt dann natürlich auch in der bestellten Schüssel. Füße, Köpfe, Augen, Bauch, Euter, Wirbelsäule, Rippen, Nacken und was weiß ich nicht noch, was es alles am Tier zu verwerten gibt, kann hier offensichtlichst aufm Markt gekauft werden oder in schon klassischen Gerichten probiert werden. Weggeschmissen wird hier wirklich nichts. Die deutsche Lebensmittelindustrie wirft auch nichts weg, vermarktet dies nur wesentlich versteckter in zum Beispiel leckeren, tiefgefrorenen Chicken-Nuggets, Fischstäbchen, bereits panierten Schnitzeln oder für Tierfutter. Doch auf dem Teller liegt am Ende irgendwie immer ein Filet oder ähnliches. Ein Hühnerkopf sollte aber eher nicht in der Suppe schwimmen.

Zum Abend hin ändert sich die Szenerie nur ein wenig: Die Saftstände werden durch Hamburguesa-Stände ausgetauscht, Grills platzen vor Fleisch bald über, als auch vor Leuten. Ich merke dabei immer, wie sehr die Cochabambinos ihr Essen mögen. Nicht nur zum Mittag wird ordentlich etwas verputzt, nein auch am Abend -in den altgewohnten Kombinationen. Hunger muss ich hier wirklich nicht leiden, da es zum einen überall etwas zu Essen gibt und zum anderen die Preise eher verwundern sollten. Eine riesige Mahlzeit (reicht bei normalem Hunger für zwei Personen) kostet in der Universität zum Beispiel gerade einmal 10 Bolivianos (ca. 1€). Wer nicht ganz so lecker essen möchte, bekommt die gleichen Gerichte auch noch günstiger zu kaufen, was dann z.T. bis unter 5 Bs geht.

Ein weiterer Verführender Faktor ist, dass einem das Essen oft herangetragen wird. Oft gibt es, vor allem nachts, Cholitas, die mit ihrem Bachladen rumkommen und ihre Leckereien anbieten. Tagsüber treten diese auch in den Bus ein, vor allem auf der Cancha. Eis-, Refrescosverkäufer und vieles mehr stromern zudem auch durch die Stadt.

Meine Mentorinnen hatten recht: Cochabamba ist die Oase des Essens.

Dienstag, 12. Oktober 2010

Mein Arbeitsalltag Teil I

Mein Arbeitsalltag unterteilt sich in den Vor- und Nachmittag. Jeden Morgen steh ich um 7 Uhr auf, trink einen organischen, in Bolivien fair hergestellten Kaffee, schreibe ein wenig in meinem Buch, um dann um 18.15 Uhr das Haus zu verlassen. Da momentan noch das Projekthaus von Inti K’anchay sehr weit draußen in der Stadt liegt, zieht sich dementsprechend die Busfahrt hin. Da ich mir aber vorgenommen habe, mein Spanisch durchs Zeitunglesen aufzubessern, lese ich meistens in meiner Le Monde De Diplomatique -versteh momentan aber leider nur die Hälfte. Um 9 Uhr öffnet dann ein Mitarbeiter die Tür und lässt alle eintreten. Teewasser wird aufgesetzt, manchmal die Brötchen für alle mit Butter, Dulce De Leche oder Marmelade bestrichen. Da Inti K’anchay Kinder und Jugendliche im Schulalter betreut, wurden zwei Altersstufen eingerichtet. Die niños sind auf dem gleichen Grundstück in einem kleinen abgesonderten Haus untergebracht, die adolecentes vergnügen sich tagtäglich im Haupthaus, wo auch Küche, Büros, Bad und Kammer liegen.

Gefrühstückt wird jeweils in den Altersgruppen. Spannend für mich ist hierbei, dass vor jeder Mahlzeit von einem Jugendlichen ein Gebet gesprochen wird. Dies hat nicht unbedingt etwas mit Religiosität zu tun. Es gehört konzeptionell festgelegt zu dem Re-Strukturierungsbereich und den Ritualen. Es wird nur freiwillig gesprochen. Nach dem Frühstück mit dem für Europäer übersüßten Tee und einem Brötchen pro Person, wird grundsätzlich Raum und Unterstützung für Hausaufgaben gegeben. Zudem kommen wöchentliche eine Mathematiklehrerin, ein Tai-Chi-Meister und ein Englischlehrer (ein berenteter Englischlehrer aus Norwegen, der hier auch einen Freiwilligendienst leistet)ins Projekt, um zusätzliche Unterstützung anzubieten. Darüber hinaus werden öfters Thementage zu den unterschiedlichsten Bereichen durchgeführt. Worauf diese speziell abzielen erkläre ich gleich noch. Gegen zwölf ist die Köchin meistens mit dem Essen soweit, dass aufgetischt werden kann. Da doña Vicenta durch die schieren zuzubereitenden Essensberge nicht in der Lage ist, diese alleine zu kochen, helfen ihr dabei täglich Jugendliche. Natürlich müssen sie manchmal erst zu dieser schönen Aufgabe geführt werden. Nach dem Essen werden die vorher durch ein Zufallsprinzip ausgelosten oficios verteilt. Denn jeden Tag wird zum Abschluss das gesamte Haus geputzt. Wer seine Aufgabe gewissenhaft erledigt hat, bekommt sein Fahrtgeld zur Schule ausgehändigt. Hierbei muss Mensch wissen, dass die bolivianischen Kinder nur halbtags und zwar am Nachmittag zur Schule gehen. Deswegen hört für mich der erste Teil meines Arbeitstages um 1 Uhr auf.

Doch worauf legt Inti K’anchay seinen Fokus? In dem Gespann von Unterprojekten innerhalb der Fundacion Estrellas en la Calle, die aus der Arbeit direkt auf der Straße (Coyera), einem Kindergarten (Fenix), den Besuchen von ehemaligen Straßenkindern, gefährdeten Familien oder Angehörigen (Wiñana), der Koordination im Büro sowie richtigen Arbeitsstellen bestehen, übernimmt Inti K’anchay die Präventionsarbeit. Die Zielgruppe besteht aus Kindern und Jugendlichen, die in dem Sinne in gefährdeten Situationen leben, in denen sie Destrukturierungs- und Entpersonalisierungsprozesse erleben müssen/mussten, wodurch zudem die Gefahr bestehen kann, dass sie auf der Straße leben werden. Natürlich arbeiten wir auch mit der poblacion, die die Straße bereits verlassen hat. Durch, für bolivianische Verhältnisse, zeitgebundene und feste Tages- sowie Wochenabläufe soll den Jugendlichen die Möglichkeit geboten werden, ihre Fähigkeiten und Talente zum einen zu entdecken und zum anderen auszubauen. Gleichzeitig können sie alte und für sie schädigende Verhaltensweisen durch förderlichere austauschen. Ihr familiärer Hintergrund soll hierbei kein Hindernis darstellen, weswegen sie im Projekt alle benötigte Unterstützung bekommen, um aus eigener Initiative heraus ihr Leben so zu gestallten, dass sie nicht auf der Straße leben müssen. Dadurch spielt die Integration in das Schulsystem eine besonders wichtige Rolle. Doch auch andere Themen wie Gesundheit, Psychologie, Sport (Kraft/Energie), Hygiene, Sexualität, Recht und Freizeitgestaltung bilden eine Arbeitsgrundlage. Das schwierige für die Mitarbeiter ist es hierbei stets zu erkennen, dass durch den präventiven Charakter der Arbeit Problemfelder nicht direkt und sofort sichtbar sind. Die Jugendlichen wirken im Vergleich zur Straße unbefleckt und einfach. Doch nichts desto trotz darf sich niemand zurücklehnen und seinem Laisse-faire-Stil frönen, denn wir arbeiten immer noch mit eine gefährdeten Zielgruppe.

gewohnt anders

Der Alltag hat nach bereits fünf Wochen Einzug gehalten. Heute Nachmittag sollte ich für die Fundacion hilfsweise zwei Schweizerinnen, die auf der Suche nach unterstützungswerten Projekten sind, übersetzen, was das Projekt Coyera versucht zu realisieren. Auf dem Heimweg erzählte ich ihnen noch ein wenig mehr über Cochabamba und die Fundacion Estrellas en la calle. Dabei viel mir zum einen auf, wie selbstverständlich für mich die Kommunikation auf Spanisch geworden ist, wie relativ einfach mir die auch mittlerweile fällt. Zum anderen wollte ich nach der Arbeit selbstverständlich Obst auf dem Markt kaufen. Supermarkt? Brauch ich nicht! Das kann ich auch alles inmitten von Obstbergen besorgen. Das mich dabei der Anblick von z.B. früher befremdlich anmutenden Fleischbergen, Hühnerfüßen und –Köpfen nicht mehr störte, viel mir erst später auf. Natürlich hielt ich im Anschluss Ausschau nach dem abends stets überfüllten Trufi 110, stieg nach ein wenig Wartezeit, gespickt mit an mir vorbeibrausenden und mich anhupenden Taxis schließlich ein, atmete die gewohnt verpestete Abgasluft ein, sagte dem Fahrer, dass ich jetzt hier am Kreisverkehr aussteigen möchte.

Alles erschien mir daran normal.

Selbst das Geld erscheint mir mittlerweile wie eine Währung, nicht mehr wie Papier, dem ich kein Wert zuschreiben kann. Meine Arbeitsroutine, mein Arbeitstagsablauf erscheint mir gewöhnlich. All den Dingen schenk ich heute kaum noch Gedanken der Extravaganz. Meine Kleidung läuft bald aus, habe ich morgen genug Zeit mich ans Waschbecken zu stellen und sie zu schruppen? Vielleicht halt erst übermorgen.

Zum Glück resultiert diese Sicherheit nicht in Langeweile, denn aufregend bleibt jeder Tag vom Neuen. Ich entdecke noch immer neue Dinge. Nur die bereits oft erlebten Aspekte formen meinen Alltag. So wie ich ihn Berlin stets mit der Ringbahn irgendwo hingefahren bin, steig ich an jeder beliebigen Ecke in ein Trufi, versuche möglichst wenig Münzen auszugeben, Kaufe alles auf dem Markt, springe fast lebensmüder über die Straßen, lass mich von Taxi- sowie Trufifahrern durch Anhupen von Zeit zu Zeit zum Mitfahren überreden, spring gekonnt über den Hundekot im Treppenhaus, genieß die Aussicht meiner Terrassenwohnung beim Waschen, genieße Essen aus Plastiktüten und staune kaum über den Zuckergehalt von Lebensmitteln.

Gewohnheit regiert die Welt.

Samstag, 2. Oktober 2010

Gewalt gehoert einfach dazu

Wo Worte aufhören, fängt Gewalt an. Welch ein Erlebnis! Bis jetzt hatte ich stets den Eindruck, dass die Straßenkinder ein schlechtes Leben führen, es trotzdem aber positive Dinge gab, die mich zum Teil überraschten, dass sie existieren und mich manchmal vergessen ließen, in welch schlechtem Zustand sie sich wirklich befinden. Doch heute wurde ich wachgerüttelt! Eine andere Organisation, die sich auch mit Straßenkindern beschäftig, organisierte ein Fußballturnier zwischen mehreren Teams von Straßenkindern und anderen Kindern. Dies war daran zu erkennen, dass die Nicht-Straßenkinder einfach hochpolierte Nike-Fußballschuhe und Trikots ohne Löcher und strahlender Farbe trugen. Welch eine schöne Idee, verschieden Milieus über Fußball für einen Nachmittag zusammenzubringen. Die Teams wurden organisiert und spielten in zwei Halbzeiten á 15 Minuten gegeneinander. Für Zuschauer war auch gesorgt, indem der Wettstreit auf einem Fußballplatz in der Nähe vom Fluss/Bach stattfand, an dem sehr viele Staßenkindergruppen wohnen. So war außerdem sichergestellt, dass diese auch teilnehmen werden und es nicht vergessen konnten. Mir offenbarte sich ein schon sehr bizarres Bild von Unmengen an Kindern aus verschiedensten Milieus und den dazugehörigen Mitarbeitern verschiedenster Organisationen. Diese Kollegen waren auch sehr einfach an ihrer hellen Hautfarbe zu erkennen, die einfach überwog.

Die Fundacion „Estrellas en la calle“ wahrt den Grundsatz, dass die Kinder während der Aktivitäten keinen Kleber oder sonstige Drogen konsumieren dürfen. Dies wird auch äußerst konsequent durchgesetzt, indem die Kleberflaschen (vuelos) vor jeder Aktion mit Namen versehen in einer Tüte eingesammelt werden und später wieder ausgeteilt werden, wenn uns die chicos daran erinnern. Dieses Vorhaben bedeutet für uns Mitarbeiter stets viel Anstrengung, verortet sich aber im Grundkonzept jeglicher Arbeit mit den Jungs und Mädels. Hierbei geht es nicht nur um Anti-Drogen-Arbeit sondern auch um Respekt, Steigerung der Aufnahme- sowie generell der Leistungsfähigkeit. Dies kann nicht bei allen Organisationen beobachtet werden. So kam es, dass extrem viele Jugendliche konsumierten, auch wenn ihre educadores neben ihnen saßen oder mit ihnen sprachen. Dies erschwerte es natürlich für uns ungemein, den Konsum unserer Gruppe für die Dauer des Turniers zu unterbinden. Die chicos suchten immer wieder alte Flaschen aus dem Flussbett, um an ihnen schnüffeln zu können.

Obwohl sie eigentlich sehr gut Fußball spielen können, siegte die andere Mannschaft. Die war in ihrer Spielweise wesentlich offensiver bis hin zu aggressiver. Da ich während des Spiels auf die Habseligkeiten unsere Jungs aufpasste, nahm außerdem die Gelegenheit war, zum einen in Kontakt mit den Jungs zu kommen und zum anderen das allgemeine Geschehen zu beobachten. Dabei bot sich mir der schon oben beschriebene Eindruck zum Konsum, aber auch ein Bild der permanenten Gewalt. Ständig konnte ich irgendwo neue Rangeleien bis hin zu ernsthaften Schlägereien beobachten –letzteres weitaus öfter. Woran mach ich dies fest? An dem Grad der Gewalt. Oft wurden Kleberflaschen untereinander entwendet, was zu Verfolgungsjagden, Androhungen von Steinwürfen, Drohgebärden im Allgemeinen und kurzen Handgreiflichkeiten führte. Diese Bild änderte sich aber allzu oft in ernsthafte Faustkämpfe und Steinwürfe. Da der Kleber die Motorik extrem stark einschränkt, droschen die Jugendlichen zwar anscheinend ohne Rücksichtnahme oder Zurückhaltung auf einander ein, trafen dafür aber nur sehr selten. Zum Glück war unsere Gruppe bis dato damit nicht konfrontiert worden.

Das Turnier war vorbei, ein großer Topf mit refrescos (allgemein ein Erfrischungsgetränk) herangekarrt, aus dem sich jeder ein Becher abschöpfen durfte. Dies ging wie gewohnt nicht ohne Drängeleien und Rangeleien von statten. Unsere Gruppe stand mitten in diesem Tumult, trank und machte sich auf den Weg. Wir standen auf, um mit ihnen den Platz zu verlassen. Plötzlich sahen wir einen unserer Jungs in einem Faustkampf verwickelt. Obwohl er beständig dem anderen nach hinten entwich, ließ er Salven von Faustschlägen ab, von denen keine traf. Einer unserer Mitarbeiter Gabo hielt irgendwann seine Hand dazwischen und forderte eine Ende -basta! Wir setzten unseren Weg nach diesem Zwischenfall fort. Doch Pustekuchen. Der andere Junge kann erneut angestürmt und stürzte sich auf ihn, doch diesmal folgten ihm weitere Jugendliche, die sich an die Restlichen der America-Gruppe zu schaffen machten.

Den Grund dieser Schlägerei konnte ich bis heute nicht herausfinden. Im Team haben wir vermutet, dass es auch keinen wirklichen Grund, außer dem Markieren von Respekt und Rangzugehörigkeit, gab. Vielleicht ist dies auch ein Ausdruck für fehlende Sprachkompetenzen. Nichts desto trotz war jetzt unser aller Eingreifen gefordert, um schlimmeres zu verhindern. Dazu muss gesagt sein, dass wir nur so eingreifen, indem wir unseren Arm zwischen die Streitparteien halten und ein Ende fordern. Denn es darf nicht vergessen werden, dass bei solchen Prügeleien andere Werte- und Normensysteme greifen, die vielleicht auch auf Gewaltausübungen zugeschnitten sind. Wer dabei Unterstützung durch vielleicht einen gringo (weiße Menschen) bekommt, verliert sofort seinen Kampf um mehr Anerkennung bzw. Respekt. Zudem stellt sich keine Achtsamkeit und geringere Skrupellosigkeit ein, nur weil wir Mitarbeiter dazwischen stehen. Trotzdem müssen wir versuchen schlimmeres zu verhindern.

Als größtes Problem gestalteten sich die immer wiederkehrenden Angriffe, von oft auch ganz anderen Personen, die am Anfang noch gar nicht dabei waren. Unser Abgang vom Platz zog sich in die Länge, da wir beständig aufgehalten wurden. Auf dem Bürgersteig angekommen konnten viele Jungs bereits Abstand zu den Angreifern gewinnen. Diese nahmen nun Steine von der aufgebrochenen Straße. Unterlieg aber nicht dem Trugschluss, dass es sich hierbei um kleine Steinchen handelt, wie mensch es vielleicht aus Deutschland gewohnt ist. Nein! Mehr als Faustgroße Hinkelsteine wurden hier mir aller Wucht losgeschleudert. Ein Wunder, dass die bei der Entfernung überhaupt trafen. Ein anbrausender Stein sollte den Kopf des einen chico eigentlich knapp verfehlen, dieser drehte seinen Schädel jedoch genau unpassend nach hinten um. Der andere wurde leider zielgerichtet oberhalb der Schläfe getroffen. Ich könnte nach solch einer Erschütterung und den Schmerzen nicht weiterlaufen. Durch unser Zutun konnten wir zum Glück die große Mehrheit an Würfen unterbinden.

Reichlich Blut floss, viel Aufregung folgte, ich verstand die hiebbeliege Sprache der Straßenkinder nicht mehr. Nach einer kurzen Schreckminute brüllten sie nach ihren vuelos und konnten nicht einmal mehr abwarten, bis ihre Flasche aus der Tüte gezogen wurde. Ich wurde fasst überfallen, denn die Jungs rissen mir einfach jede Flasche aus der Hand, ohne irgendeinen Namen zu beachten. Nun schnüffelten sie pausenlos, sprangen hin und her, konnten kaum stillstehen und riefen wild durcheinander. Hat ein kostenloser Arzt der Franziskaner eigentlich am Freitagnachmittag noch offen? Dies galt es zunächst zu klären. Inzwischen kam Oscar, der Chef von coyera, sammelte die Jungs im Auto ein und fuhr zu den Franziskanern. Vorher versuchte er noch die beiden am offensichtlichsten betroffenen Jungs zu untersuchen, die konnten aber kaum still stehen, geschweige denn irgendetwas beschreiben. Da nicht alle ins Auto passen, begleiteten wir die Unversehrten, bis diese sich recht schnell entschieden von uns verabschiedeten. Die Geburtstagsfeier von der Chefin des Kindergartenprogramms Fenix wirkte danach sehr unpassend und bizarr.