Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich mir aus eigenem Antrieb ein Hemd gekauft! In Bolivien geht mensch dazu aber nicht in ein vornehmes Geschäft, sondern in den chaotischsten Markt Cancha. Hier kann alles gekauft werden: Von Klamotten, über Hundefutter, Hygieneartikel, bis hin zu Lebensmittel aller Art. Die Cancha erstreckt sich über mehrere Häuserblocks und nur Einheimische wissen, wo sich was befindet. Jeder Neuzugang verliert sich hoffnungslos in den unüberschaubar engen Gängen. Hier fand ich jedenfalls mein schwarzes, kurzärmeliges Hemd. Zum Glück wurde ich bei der Suche von der bolivianischen Freundin meines Mitbewohners unterstützt. Denn sonst käme ich bestimmt ohne Hemd nach Hause, da mich das Suchen und Verhandeln bereits wieder genervt habe. Zum Glück werde ich durch diesen Umstand mein Geld nicht für Kleidung ausgeben, sondern eher für Reisen o.ä.
Doch zurück zu dem Grund, warum ich mich in dieses Chaos freiwillig stürzen wollte: Eine Mitarbeiterin feierte am Wochenende ihre Hochzeit in einer nahegelegenen Provinz Cochabambas. Um genau zu sein in Cillacollo. Da hierzu die ganze Fundacion „Estrellas en la calle“ eingeladen war und solche Festlichkeiten traditioneller Weise drei Tage andauern, konnte ich mich auch nicht in „einfacher“ Gaderobe im Hintergrund verstecken. Letztendlich hat mich das Hemd 40Bs (ca. 4€) gekostet. Da in Bolivien nicht alle Menschen für gewöhnlich ein Auto besitzen organisierte die Fundacion einen Treffpunkt am Büro, damit das Team im Pickup nach Cillacollo fahren kann. Was für ein Anblick: festlich gekleidete Menschen sitzen auf einem alten und halb kaputten Pickup und düsen über die Landstraße. Gurte und Helme? Weit verfehlt! Als wir bei der Kirche ankamen, ging gerade eine andere Hochzeit zu Ende. Bereits hier konnte ich erneut das bolivianische Chaos beobachten. Während das frisch getraute Brautpaar unter einem Reisregen hinausstolzierte wurden bereits die Blumen, Kerzenständer usw. hinausgetragen, die neuen Gäste nahmen in der Kirche platz, Photographen suchten ihre Gelegenheiten, auf der Straße fuhren Taxis und Trufis mit einem Hupgebrüll vorbei. Irgendwann erreichte diesen Tumult das Auto für das neue Brautpaar Beatriz und Oskar. Ein Oldtimer ganz in Weiß, mit bolivianischem Fahrer in weißem Sakko und eine Bar für die Eheleute. Der Geistliche laß stupide aus seinem Buch hervor, wechselte chronisch seine Plätze, suchte oft erneut seine Zeile und verfolgte das traditionelle Ritual: Lange und für mich noch unverständliche Reden, gespickt mit Gemeinschaftsgebeten und Klängen der mexikanischen Musikgruppe (Oskar ist gebürtiger Mexikaner), der Mann überreicht der Frau als Versprechen für immerwährenden finanziellen Unterhalt symbolisch Münzen und eine Kette wird um beide Hälse gelegt. Zum Abschluss wird das Paar von den Frauen mit Reis beworfen oder bei persönlichen Glückwünschen wird der Reis einfach ins Haar geschmiert. Also nix mit teurer Frisur, denn die wird nur wieder gut gemeint zerstört. Vor ihrem Oldtimer finden die Eheleute einen für sie extra abgesperrten Bereich, in dem sie den ersten von vielen Tänzen hinlegen sowie auch ihr erstes Getränk zu sich nehmen. Die Gäste werden in gemieteten Bussen zu den Festräumen kutschiert, während der Sakkofahrer zu für das Paar bedeutsamen Orten in der Nähe fährt, damit dort Fotos geschossen werden können. In der Hochzeit des Chefs der Fundacion hat dies mehrere Stunden gedauert, so dass die Gäste irgendwann einfach schon mit dem Mahl anfingen. Von daher blieb es spannend, wann Beatriz und Oskar eintreffen werden.
Der Festsaal lag nur wenige Straßen weiter weg. Eine große Halle die Festlich geschmückt und vielen Tischen bestückt war, so dass in der Mitte eine Fläche zum Tanzen übrig blieb. Am hinteren Ende wurden kunstvoll mit Luftballons die Initialen der beiden in grün/weiß aufgehangen, daneben fand mensch eine zum Teil hängende Konstruktion für die vier Hochzeitstorten. Die Fundacion ließ sich an zwei Tischen nieder und begann recht zackig die Ron- sowie Sanganiflasche (bolivianischen Schnaps) zu öffnen.
An dieser Stelle erscheint es mir wichtig zu erwähnen, dass ein starker aber gesittet-ritueller Alkoholkonsum hier typisch erscheint. Der Ritus fängt bereit im Keim an: Zu Einladungen erscheint der Besucher stets mit einem Gastgeschenk. Dazu eignet sich natürlich am besten eine Flasche Alkohol. Allein wird nie getrunken! Mensch schenke zunächst allen anderen Gästen ein, dann sich selbst. Bei jedem Schluck stößt mensch mindestens mit einer anderen Person ein, wenn nicht mit der ganzen Mannschaft. Bei zwei großen Tafeln kann dies aber auch bedeuten, dass ersten kontinuierlich angestoßen wird oder aber auch direkt zweimal hintereinander, da manche Gäste etwas verzögert mitbekommen, dass die Gläser gehoben wurden. Schenke nie dir selbst ein, denn du musst von einer anderen Person eingeladen werden, die durch Empathie wissen muss, welches Getränk du jetzt zu dir nehmen möchtest. Bei kleineren Runden schenkt immer die gleiche Person ein, bis sie ihre Aufgabe abgibt. Einladungen können selbstverständlich nicht abgelehnt werden. Wer angibt, dass er lieber mehr von dem Mischgetränk (z.B. Saft oder Limonade) zu sich nehmen möchte, wird mit einem freundlichen bis hin zu z.T. spöttischem Lächeln ignoriert. Dies erscheint vielleicht furchtbar kompliziert und als komplexer Verhaltenskodex, doch im Grunde wird nur Achtsamkeit für seine Mitmenschen, Gemeinschaft und Fürsorge verfolgt. Deswegen fällt mir die Umstellung auf solche Sitten nicht schwer.
Doch zurück zum ersten Festtag. Das Brautpaar ließ zum Glück doch nicht lange auf sich warten und betrat den Saal mit einem tosenden Applaus aller Gäste und ordentlich zackiger Musik der Liveband. Da Tanz in Bolivien zu einem festen Bestandteil aller Festlichkeiten gehört, mussten die beiden auch sofort einen gemeinsamen Tanz hinlegen. Dabei wurden alle traditionellen Tänze durchgegangen. Anschließend mussten die Partner jeweils mit der engsten eigenen Verwandtschaft und der des anderen tanzen. Zwischendrin reichte der Kellner stets ein Erfrischungsgetränk -Bier natürlich. Während dessen fanden wir heraus, dass heute Abend kein Essen serviert wird, sondern erst morgen. Da wir aber alle auf ein gewohnt gigantisches Festmahl eingestellt waren, quälte uns bereits der Hunger. Die tonnenweise aufgedeckten Chips konnten dem nicht entgegenhalten. Zum Glück lag eine Tür weiter eine kleine Imbissbude, in der wir uns sattessen konnten. Der weitere Verlauf des Abends war recht simpel strukturiert. Getrunken wurde pausenlos und ansonsten wechselten sich Tanz- mit Ausruhsequenzen ab. Wie bereits angesprochen, wird hier das Tanzbein ständig geschwungen, jedoch mit einigen Besonderheiten. Grundsätzlich verfolgt mensch hier die Idee des Paartanzes (wobei ich auch schon mehrfach zwei Frauen miteinander tanzen sehen habe). Da diese Saal den entsprechenden Platz liefern konnten, wurde die zweite grundsätzliche Idee auch verfolgt: Paartanz in Reihe. Sprich, es stehen sich zwei Reihen an Tanzpartner gegenüber, dir mehr oder weniger die gleichen Bewegungen vollziehen. Denn Bolivien bietet eine Menge traditionelle Tänze an, dir allgemein in ihren Schritten bekannt sind, jedoch nur auf einem Basislevel. Was für mich nichts desto trotz bereit extrem schwierig ist, da ich die Tänze noch nicht raushören kann, als auch mir die passenden Schritte gemerkt habe. Doch als Europäer wird mir das unterstützend verziehen und lerne damit bei jeder Feier immer mehr dazu. Grundsätzlich muten die Schritte immer sehr an Salsa o.ä. an. Damit die Menge nicht verdurstet kommt immer mal wieder ein Kellner mit einem nach der Farbe zu urteilen giftig wirkenden und alkoholischen Erfrischungsgetränk rum.
In den Ruhepausen werden dann die Chips mit Rum oder Sangani runtergespült, geplaudert, zaghaft versucht manch zu stark alkoholisierte Mitmenschen (z.T. auch Freiwillige) auszubremsen, gelacht, Fotos geschossen. Der Pickup sollte uns zum Glück mit einem verantwortungsvollen Fahrer, der den ganzen Abend kein Alkohol zu sich genommen hat, wieder in die Stadt bringen. Als wir gerade aufbrechen wollten, wurde jedoch die Torte angeschnitten, welche extrem süß aber lecker war. Denn die einzelnen Lagen bestanden nicht aus chemischer Creme, sondern aus ordentlichen und geschmackvollen Bestandteilen. In alter Tradition ging es auf der Ladefläche zurück in die Stadt. Zudem ist es hier so üblich, dass mensch sich gegenseitig nach Hause begleitet, um sicher zu gehen, dass auch jeder ohne Zwischenfälle dort ankommt. An normalen Abenden wird dafür ein Taxi zusammen genommen, welches dann alle Häuser abfährt. An diesem Abend fuhr Oscar jeden vor die Tür und wartete natürlich solange, bis das Schloss wieder zugeschnappt hat. Wenn ich manchmal nachts ankündige, dass ich zu Fuß alleine nach Hause gehen werde, weil ich relativ nahe wohne, werde ich entsetzt angeschaut und förmlich angefleht mit in das Taxi zu steigen. Sollte ich aber auch kein Geld mehr haben, um etwas dazu zu geben, stört das niemanden, eher sind alle froh, dass ich zur Vernunft gekommen bin und mit dem Taxi mitfahre.
Die Party geht weiter, und mensch sollte nicht denken, dass dies in weniger heftig abläuft nur weil Sonntag ist und morgen früh alle arbeiten müssen. Mir wurde erklärt, dass Bolivianer einfach nicht wenig trinken können. Ganz nach dem Motto: Alles oder gar nix. Diesmal trafen wir uns in der Stadt, um anschließend gemeinsam in zwei verschiedenen Trufis loszufahren, jedoch mussten wir insgesamt 90min warten, bis alle am Treffpunkt eingetrudelt waren. Wir verabredeten uns schließlich zu um 6 nach bolivianischer Uhr, da kommt so etwas schon mal vor, zum Leidtragen alle peniblen Deutschen. Ich dachte ja, dass heute Abend vielleicht nur Bier auf den Tischen stehen wird, anstelle der Liköre, doch weit verfehlt. Heute gab es wieder beide hochprozentige Getränke plus Unmengen an Bier. Wieder musste das Ehepaar etliche Tänze durchgehe. Diesmal aber nur Wienerwalze im Wiegeschritt des langsamen Walzers. Anschließend wurden die Geschenke von den einzelnen Freundesgruppen bzw. Familien hereingetragen. Dabei handelte es sich stets um Haushaltsgeräte. Mir wurde verraten, dass es üblich ist, dass das frische Ehepaar Geschenke für ihr neues Heim im Gegenwert ihrer Feier überreicht bekommt. Deswegen stand am Ende der Zeremonie auch eine ganze Küche, Wohnzimmer und Schlafzimmer in der Halle -vom Design her bundgemischt. Welch ein herrliches Festmahl! Gewohnt riesige Portionen aus gebackenem Käse mit Reis, Kartoffeln, Remoulade, zwei Steaks und einem Nudelsalat. Beim Essen wird eher weniger gesprochen, da alle damit beschäftigt sind, den Essensberg in sich hinein zu spachteln. Unterhaltungen können ja schließlich auch anschließend mit einem Bierschwall vorgesetzt werden. Natürlich tanzten, tranken und lachten wir auch wieder viel. Nur das Ehepaar verfiel ein wenig in Stress, denn sie mussten nun an jedem Tisch rumgehen und mit ihren Gästen anstoßen. Dazu wurde jeder Tafel ein Kasten Bier gereicht. Selbstverständlich stieß jeder mit ihnen freudigst an und forderte, dass die beiden ihr volles Glas auf einmal austranken. Welch ein Durst braucht das Paar bei mehr als 20 Tischen? Die Müdigkeit vom Vortag waren irgendwann allen anzusehen, trotzdem getraute sich niemand so recht, den Abend für sich zu beenden, bis schließlich gegen kurz nach Mitternacht endlich der gemeinsame Entschluss gefasst wurde, loszugehen. Bis sich aber alle ausgekäst hatten, dauerte dies natürlich noch ein wenig.
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