Donnerstag, 14. April 2011

Coyera - Wiñana

Mit fällt auf, dass ich bis jetzt noch nie meine zweite Arbeitsstelle am Nachmittag vorgestellt habe. Wie ich schon berichtete arbeite ich ja morgens im Projekt Inti K’anchay und nachmittags schließlich noch in Coyera und Wiñana. Wo der Unterschied liegt, erkläre ich im Folgenden noch genauer.

Coyera beschäftigt sich ausschließlich mit Menschen beider Geschlechter (!), die auf der Straße oder auch in einigen Fällen mit Menschen, die sich in den einzelnen Gruppen tagsüber aufhalten, auf der Straße arbeiten und kurz davor stehen auf der Straße zu leben. Viele Menschen fragten mich oft, wie wir die Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen täglich finden sowie treffen. Es ist nicht so, dass wir losfahren und aus dem Autofenster schauen, wenn wir kennen. Auch fahren wir nicht zu irgendwelchen Hinterhöfen oder dergleichen, um die jeweiligen Personen zu finden. So wie in Deutschland auch, leben die obdachlosen Menschen in relativ festen Orten und arbeiten hauptsächlich auch an den gleichen Stellen. Ihre zugehörigen Namen resultieren aus den jeweiligen Orts- oder Straßennamen. Jeden Montagnachmittag planen wir im Kollegium unsere Woche, wobei die Vormittage jeder Woche für die gleichen Gruppen eingeplant sind. So können wir unsere Aktivitäten gut mit anderen Organisationen abstimmen, die auch mit den gleichen Gruppen arbeiten. Gleichzeitig erfahren die Gruppen dadurch Routine sowie einen Wochenplan. Drei der sechs Gruppen, mit denen wir arbeiten leben unter Brücken: America, Huaynacapac, Costanera. Eine auf einem Platz (San Sebastian), eine andere befindet sich auf einem Berg (Costanera), an einem von der Stadt abgeschotteten Ort, wo sie sich ihre Hütten konstruiert haben. Die letzte (6 de agosto) besteht aus Kindern und Jugendlichen, die sich zum z.T. zum Arbeiten treffen und einigen, die in der Nähe eines Schwimmbades wohnen.

Sie unterscheiden sich sehr voneinander. Einige Gruppen bestehen schon sehr lange, während sich 6 de agosto erst vor einem halben Jahr neu gebildet hat. Auch die Art und Menge des Drogenkonsums sowie ihre ‚Arbeit‘ variieren. Hauptdroge ist jedoch Schuhkleber, der irgendwann industriell verändert wird, so dass seine Wirkung wesentlich stärker aber auch schädlicher ist. Marihuana wird z.T. auch konsumiert und im Beispiel Huaynacapac und San Sebastian spielt purer Alkohol sowie Chicha eine große Rolle. Der Chef jeder Gruppe sammelt von allen Mitgliedern Geld ein, um den Kleber von einem Dealer zu erstehen, welcher nachwievor in den typischen kleinen milchigen Plastikflaschen verkauft wird. Je nachdem wird täglich eine bis zwei Falschen inhaliert. Er sorgt dafür, dass keine Kälte, Hunger sowie Schmerzen gespürt wird. Gleichzeitig benebelt er den Geist ähnlich wie Marihuana, muss aber für seine Wirkung fast konstant konsumiert werden. Für eine noch stärkere Wirkung kann der Flüssigkleber auch in eine Tüte gekippt werden, aus der wie bei einer Panikattacke ein- und ausgeatmet wird. Da es über die Atemwege geht, wirkt er sofort, geht direkt an die Nervenbahnen und schädigt sie langfristig, wodurch sich zunächst die Feinmotorik verabschiedet, später folgt Grobmotorik, bis hin, dass die Menschen nicht mehr Laufen und dergleichen können. Zudem trocknet das Hirn immer weiter aus, wodurch dessen Leistungen stückchenweisen eingehen.

Die schon angesprochenen ‚Arbeiten‘ sind hauptsächlich Autofensterscheiben zu putzen, wofür sie mit der kleinsten verfügbaren Münze bezahlt werden. Da Bolivien an einem Münzmangel leidet, finden die Bolivianer meistens nur 50 Centavos (2 x 50 Centavos = 1 Boliviano) in ihren Brieftaschen. Dafür kann sich Mensch ein Brötchen beim Bäcker kaufen oder auch eine Tüte Wasser. Zur Erinnerung: ein Mittagessen kostet ca. 10Bs, eine Unterkunft in einem Hostal, wo kein Tourist unterkommen möchte 20Bs. Als Fortschritt gilt Süßigkeiten auf der Straße oder in Bussen zu verkaufen. Viele verkaufen auch ihre gestohlenen Gegenstände auf der Cancha.

Wir versuchen nun die niños en situación de calle dazu zu motivieren, dass sie die Straße verlassen, ihren Drogenkonsum aufgeben und damit einhergehend einige ihre Gewohnheiten und Habitus ändern. Dies ist sehr wichtig, sich zu merken, da anderen Organisationen, die mit den ungefähr 1000 Straßenkindern Cochabambas arbeiten, sich unterscheidende Ziele verfolgen. Alles läuft bei uns über Motivation. Wir können sie zu nichts zwingen. Außer vielleicht unsere Regeln während unseren Aktivitäten zu beachten. Sie können schließlich immer gehen.
Dazu besuchen wir die jeweiligen Gruppen wöchentlich und spielen mit ihnen hauptsächlich Fußball oder andere Sportarten, die unteranderem gegen die Wirkungen des Klebers ankämpfen. Vor den Spielen bieten wir verschiedene Workshops an, die z.B. die Menschenrechte, Gesundheit, Hygiene, Ernährung, Verhütung, Gewalt (auch Polizeigewalt), Umwelt, Identität, Selbstbewusstsein, Wertschätzung der eigenen Person und der Mitmenschen behandeln. Am Ende jedes Vormittags essen wir mit ihnen eine Kleinigkeit, was auch dafür sorgt, dass sie mindestens einmal die Woche gesund essen und wir gleichzeitig unsere Bemühungen im Bereich der Ernährung praktisch unterstützen. Nebenbei passiert viel in Einzelgesprächen. Sollten aus diesen konkrete Motivationen oder Bedürfnisse (z.B. Arztbesuch) zur Veränderung bestehen, koordinieren wir die dazugehörigen Schritte im Team und setzten sie beim nächsten Mal am Rande um. Obwohl wir mit ca. 154 Straßenmindern insgesamt arbeiten, können wir im Moment rund 25 casos concretos festhalten. Davon verlässt jährlich ein kleiner Prozentsatz die Straße und einige dieser Menschen kehren (längerfristig) nicht auf die Straße zurück.

Von dieser Warte aus betrachtet, erscheint unsere Arbeit aussichtslos, vielleicht sogar sinnlos. Doch trotzdem benötigen sie Hilfe und Zuwendung. Damit die Anzahl der auf der Straße lebenden Menschen nicht noch weiter anwächst versucht Inti K’anchay ja, dem präventiv vorzuwirken.
Auch wenn wir nicht gerade viel Bewirken können und uns schnell Grenzen gesetzt sind, lässt mich der Kontakt und das Zusammensein mit den Kindern meine Traurigkeit darüber vergessen. Denn obwohl sie im ersten Moment und in verschiedenen Situationen wie Erwachsene erscheinen, blickt beständig ein kleines Kind in jedem von ihnen durch. Diese Kombination macht sie oft so liebenswert und süß. Hier kann ein jeder lernen, sich an den kleinen Dingen zu erfreuen.

Wiñana kümmert sich dann in einem zweiten Schritt um all die Menschen, die die Straße verlassen haben. Meistens besteht dieses Klientel aus Personen, die wir schon aus unserer Arbeit auf der Straße kennen. Dies vereinfacht viele Dinge. Oft haben wir schon im Moment des Veränderungsprozesses damit angefangen die rechtlichen Schritte einzuleiten, um z.B. einen Personalausweis zu beantragen. Auch kennen wir Gewohnheiten, Geschichte und besitzen schon Kenntnisse in den Bereichen educativa, social und psicologia.

Ziel dieses Projektes ist es nun, die Menschen in ihrem Prozess positiv zu unterstützen, zu orientieren und beständig weiter zu motivieren. Dazu besuchen wir sie regelmäßig (je nach Bedürfnissen und Zustand der Personen) in ihren Häusern oder Zimmern. Je nach den Ergebnissen der Gespräche leiten wir die entsprechenden Schritte ein: Begleitung zu Ämtern, Ärzten und öffentlichen Stellen, Unterstützung bei Arbeits- und/oder Lehrstellen, Intervention der Psychologin, das Alphabet lehren. Alle zwei Monate versammeln wir alle zu einem taller (workshop), in denen wir häufige Themen ansprechen. Ziel ist dabei aber auch gleichzeitig, dass die Eltern z.B. aus ihren Häusern rauskommen und mit ihren Kindern andere Orte Cochabambas und Umland kennenlernen. Gleichzeitig können wir sie dadurch zusätzlich in anderen Verhältnissen erleben und gegebenenfalls direkt intervenieren, was auch Tipps oder Hinweise sein können. Ein gutes Essen fehlt natürlich auch nicht, was wie immer aktiv mit area salud (Gesundheit) verbunden wird, so wie auch das Thema, unter der die Exkursion steht.

Da die Mehrheit Paare mit Kindern sind, dreht sich auch viel in unseren Besuchen um die Kinder, deren Erziehung und das Leben als sich liebende Lebensgemeinschaft. Oft versuchen wir die Eltern dazu zu motivieren, dass sie ihre Kinder in den Kindergarten Fenix der Fundación schicken oder in zwei Fällen sogar in Inti K’anchay. Dies sollte, so dachte ich bis vor kurzem noch, für die Eltern sehr attraktiv sein, da ihnen in diesem schwierigen und anstrengenden Bereich noch mehr hilfe angeboten wird, von eine Fundación, die sie schon kennen. Doch durch ihre vielen Erfahrungen mit anderen Organisationen und dem Staat lernten einige vorsichtig zu sein (manchmal verstehen sie [z.T. durch die Effekte ihres Drogenkonsums]die Situation oder Zusammenhänge zwischen den Projekten nicht), da diese vielleicht in einem Moment versucht haben ihre Kinder in Zwangsobhut zu nehmen oder kennen das von Freunden. Misstrauen zu beseitigen benötigt viel Anstrengung und Kraft. Auf jeden Fall koordinieren wir unsere Arbeit regelmäßig mit Fenix.

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